(p.176) Kein Zweifel, sie sind alle sehr beliebt, die hier abgebildeten Vogel-Heimtiere! Es gibt allerdings Menschen, die das Halten von Stubenvögeln nicht mögen, und auch mich beglückt der Zaunkönig im Garten mehr, das Bachstelzchen draußen in der Natur, der Schilfrohrsänger, die jubelnde Lerche, der Pirol mit seinem Glockengeläut. Aber aus der Menschennähe ist der Kanarienvogel einfach nicht wegzudenken, und gewiss fühlt er sich bei uns wohl. Der wirkliche Tierfreund hält ihn auch nicht dauernd im Käfig; mein ‘Johannes’ lebte tagsüber zwischen den Blumentöpfen, zur Abwechslung oben auf der Gardinenstange und besonders gern am Hals der Hausfrau, wenn er nicht auf meinem Kopf umherspazierte. Wir brauchten nicht einmal die Fenster zu schließen; Johannes flog allmorgendlich kleine Runden um die Grunewaldkiefern und kehrte auf Anruf sogleich zurück. Ich war mir allerdings der Gefahr stets bewußt und rate Dir drum nicht zur Nachahmung, lieber Leser! Dein frei fliegender Kanari kann irgendwie erschreckt werden, flüchtet und findet nicht mehr heim, muss draußen elend zugrund gehen, er ist ja seit Hunderten von Generationen ein Zuchtprodukt des Menschen. Du weißt doch, wilde Kanaris kommen nur auf den Kanarischen Inseln vor; sie sind unscheinbar gefärbt, gelblichgrüne Finkenvögel, dem Girlitz nah verwandt. Aber auch ihr naturhafter Gesang hat schon eine ungewöhnliche Klangfülle. Das Gemunkel von allerlei Quälereien, die nötig sind, um den Hauskanari zum Singen zu bringen, stimmt nicht. Nur wenn er gesund ist, behaglich oder verliebt, schmettert er los. Primaner (so heißen die erstklassigen Sänger) entstehen nicht von heut auf morgen; die guten Veranlagungen werden züchterisch vererbt und durch Sing-Unterricht gesteigert. Ich besuchte öfters eine ‘Schulstube’, wo mitten zwischen jungen Hähnen ein Meistersänger war, der seinen Anfänger-Brüdern Konzerte vorjubelte. Weltberühmt sind die ‘Harzer Roller’, die ursprünglich in den Wohnungen kleiner Handwerker gezüchtet und ausgebildet wurden. Sie könnten heute den Weltbedarf an singenden Kanarienvögeln nicht mehr decken; allen in USA sollen nach jüngster Statistik 10 Millionen – meist aus Deutschland eingeführte – Kanaris in menschlicher Hege sein. Vermutlich haben sie nicht alle ein gelbes Gefieder; es gibt auch weiße, grüne, gesprenkelte und seit jüngstern wunderschön orange-rote. Möge jeder von ihnen gut betreut werden! Ganz gewiss kann der kleine Sänger vielen Menschen Freunde und auch Trost bringen.
*pic 185/186 Zwei Meistersprecher: blütenweiß der beschopfte Kakadu und bunt der langgeschwänzte Ara.