p.136 Dass alle unsere Hausrinder vom Ur abstammen, vom Auerochsen, ist bekannt und von der wissenschaftlichen Forschung erhärtet. Dieser Urstier, dessen Entstehungsheimat der asiatische Raum sein dürfte, war ein sehr wehrhaftes, mutiges Geschöpf. Zu allen Zeiten und bei allen Völkern stand seine Jagd in hohem Ansehen. Eine fast 3000 Jahre alte Keilschrift-Urkunde meldet. Dass der assyrische König Asurnasirpal 257 gewaltige Wildstiere erlegt habe, und auch das Nibelungenlied rühmt Siegfried wegen der Besiegung von 4 starken Uren. Seltsam, dass gerade dieses Wildrind wesentlich
p.137 früher Haustier verändert werden konnte. Wobei ich allerdings die Sanftmut unserer Rinder doch mit einem Fragezeichen versehen möchte. Der weidende Stier, der jähzornig wird und schon beim Anblick eines roten Halstuches wütend angreift, ist geradezu sprichwörtlich. (Dabei löst die rote Farbe nach jüngsten Untersuchungen der Fachgelehrte weder beim Stier noch beim Truthahn den Angriff aus.) Und mancher harmlos über eine Koppel spazierende Städter hat vor einer wenig sanftmütigen Kuh das Hasenpanier ergriffen. Wir erleben stets Überraschungen, wenn wir eine Tierart richtig kennenlernen. Ich bin überzeugt, dass niemand, der über Rinder Bescheid weiß, seinen Mitmenschen zum Zeichen der Missachtung ‘Rindvieh’ oder ‘blöder Hornochse’ titulieren wird. Da gefällt mir der Homer weit besser mit seiner Bezeichnung ‘kuhäugige Göttin’ für Hera, die Gattin des Zeus! Bei vielen ackerbauenden Völkern der Vorzeit – nicht nur in Ägypten und Indien - genoss das Rind göttliche Verehrung; es war fast immer der Mondgöttin geweiht, vermutlich, weil seine Hörner an die Mondsichel erinnern. Der Ablauf des Mondes am Himmel ergab damals den sichersten Zeitmesser für die Feldbestellung, die eigentlich erst durch die Zähmung des Rindes, durch seine Abrichtung und Verwendung als Zugtier möglich wurde. Bezeichnenderweise nennen die Überlieferungen aus Frühgeschichtlicher Zeit viel häufiger den Zugochsen als die Kuh. Möglich, dass jene Menschen Milch und Fleisch von den bereits noch früher gezähmten Schafen und Ziegen bezogen, also den ‘Nahrungslieferanten Kuh’ erst später entdeckten als die Eignung des Rindes, Pflug und Wagen zu ziehen. Wobei ich schnell über viele Jahrhunderte hinwegspringen und bemerken möchte, dass laut Urkunden auch Karl d.Gr. die meisten seiner Reisen im Ochsenwagen unternommen hat. Doch es wird nun wohl Zeit, über die heutige Rinderhaltung zu sprechen, Vielseitigkeit und Leistung im Gegenwärtigen aufzuzeigen. Lückenlos kann man ja die Geschichte der Urstier-Zähmung doch nicht darstellen. Oder soll ich es mir so einfach machen wie jener anonyme Witzbold, der sich mit dem Hinweis auf die Zugehörigkeit der Rinder zu den salzliebenden Wiederkäuern beschränkt und feststellt, der Frühzeit-Menschhabe den wilden Uren eine Salzspur gestreut, sie dadurch mühelos in seine Pfahlbau-Ställe gelockt? Das wäre allerdings weit ungefährlicher für ihn gewesen, als wenn er den Urstier ‘bei den Hörnern gepackt’ hätte!
*pic138 Heute wie je helfen die Rinder dem Bauern als Zugtiere bei der Feldbestellung und bei der Ernte.
*pic139 Zum oberbayerischen Fleckvieh-Schlag gehört das Gespann dieser beiden gewaltigen und offenbar durchaus gutmütigen Bullen.